Fantasy ab 16 von Yve

Kapitel 2

Beitragvon Yve » So 20 Sep, 2009 14:40


Kapitel 2

Am nächsten Morgen schlief Aurelia lange. Erst als einige Sonnenstrahlen durch ihr Fenster brachen und auf ihrem Gesicht zu prickeln begannen, wurde sie wach. Verschlafen warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war schon Zehn. Gemächlich machte sie sich auf in die Küche, kochte Kaffee und legte sich mit der gefüllten Tasse wieder ins Bett. Das Wochenende war definitiv das Schönste an einer Woche. Genüsslich nippte sie an der dampfenden Brühe, starrte aus dem Fenster und kuschelte sich tiefer in die Kissen. Es war ein schöner Morgen. Die Sonne blitzte ab und an durch die dunkle Wolkendecke und das letzte verbliebene Laub glänzte in den verschiedensten Farbtönen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag im Bett geblieben, aber familiäre Verpflichtungen standen heute auf dem Programm. Ihr Vater hatte an diesem Tag Geburtstag. Die Feier bestand aus Kaffee und Kuchen am Nachmittag und am Abend ein reichliches, von ihrer Mutter zubereitetes, Essen, für das sie sicherlich schon lange plante. Aurelias Geschenk lag schon seit zwei Wochen auf ihrem Nachttisch. Ihr Vater war ein äußerst genügsamer Mensch und wann immer man ihn fragte, was er sich wünschte, bekam man die selbe Antwort: „Ich brauche nichts, danke.“. Diese Aussage war nicht besonders hilfreich bei der Auswahl eines Geschenkes. Aurelia entschied sich dieses Jahr für eine Fotocollage. Sie hatte tagelang alte Bilder von ihrer Familie und sich gesucht und spezielle, die an wunderschöne Tage erinnerten, ausgewählt. Die Zeitspanne reichte von zwei über zwanzig Jahre. Als sie die Collage zusammengestellt hatte, wurde ihr erschreckenderweise klar, dass sie schon 29 Jahre alt und die Zeit zu schnell verflogen war. Bisher hatte sie noch nicht wirklich viel erreicht. Diese Erkenntnis war auf der einen Seite wahnsinnig deprimierend, auf der anderen Seite eigentlich nicht besonders tragisch. Sie hatte zwar keinen Ehemann und keine Kinder, dafür aber einen vernünftigen Job, eine schöne Wohnung, gute Freunde und eine Familie. Im Grunde fehlte ihr überhaupt nichts, dennoch beschlich sie manchmal ein Gefühl der Einsamkeit oder eher der Unvollständigkeit. So als ob auf irgendeine Art noch etwas passieren sollte oder müsste. Es war schwer zu beschreiben, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass das alles war, was sie in weiteren 40 oder 50 Jahren erwarten sollte. Während sie aus dem Fenster starrte, an ihrem Kaffee nimmte und den Gedanken nachhing, klingelt das Telefon. Wie gewohnt meldetete sie sich schlicht mit: „Ja?“. „Ich bin´s Lia. Könntest du mir eventuell noch eine Flasche Rotwein mitbringen, wenn du nachher kommst?“, erklang die weiche und liebliche Stimme ihrer Mutter. „Hi Mama. Ja, werd ich machen. Irgendeine bestimmte Sorte?“, fragte Aurelia. „Nein, aber er dürfte schon von besserer Qualität sein. Eigentlich sollte dein Vater einen kaufen. Das hat er auch gemacht, aber ich glaube nicht, dass Wein aus einem Karton die richtige Wahl für das Abendessen ist.“, lachte ihre Mutter. Aurelia konnte sich ebenfalls das Lachen nicht verkneifen. Das war typisch für ihren Vater. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, ging sie unter die Dusche, legte Make Up auf, brachte ihre Haare in Ordnung und schlüpfte in eine simple Jeans und einen Pullover. Ihre Eltern legten keinen besonderen Wert auf schicke Abendgarderobe an Geburtstagen und so würde sie eben legere gekleidet erscheinen, was ihr persönlich im Grunde lieber war.

Nach einer weiteren Tasse Kaffee und einem Teller Spaghetti aus der Tüte, verließ Aurelia das Haus und machte sich auf den Weg in einen kleinen Supermarkt, der sich nur drei Straßen weiter befand. Dort angekommen durchforstete sie das Weinregal und entschied sich für einen süßlichen Spätburgunder. Sie bezahlte, verließ das Geschäft und versuchte die Weinflasche in ihre Handtasche zu stopfen. Plötzlich ertönte ein raue und tiefe Stimme hinter ihr: „Hallo.“. Erschrocken drehte sie sich um und blitzende Augen durchbohrten ihren Blick. „Ach du Schande!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Hallo.“, stammelte sie völlig irritiert. Nun traf sie den unbekannten und anziehenden Mann schon zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen. Langsam wurde es unheimlich. „Verfolgen Sie mich etwa?“, platzte es aus ihr heraus. Er würdigte diese Frage nur mit einem herzhaften Lachen. „Unheimlich diese Zufälle, nicht wahr?“, fragte er. Aurelia überkam ein leichtes Schauern. Etwas in seinem Blick wirkte unheimlich und seine Frage klang nach einer Aussage zwischen den Zeilen. Er schien ihr Unbehagen zu bemerken und lächtelte erneut, während er ihr die Hand entgegen streckte und sich höflich vorstellte: „Mein Name ist Edward Hilgram.“. Wartend zog er die Augenbraue nach oben. Aurelia war gut erzogen und so reichte sie ihm ihre Hand. Allerdings hielt sie es nicht für angebracht einem wildfremdem Menschen ihren vollen Namen zu nennen und kurzangebunden hauchte sie nur: „Aurelia.“. Was wollte er von ihr? Als könnte er ihre Gedanken lesen sagte er: „Da wir uns nun schon öfter begegnet sind, wollte ich Sie gerne auf einen Kaffee einladen. Natürlich nur wenn Sie möchten.“. Das war doch kein Grund. Wenn sie jede Person einladen würde, der sie schon mehr als zwei Mal begegnet war, würde sie aus dem Kaffeetrinken nicht mehr herauskommen. Obwohl, sie musste zugeben, dass sie die Einladung gerne angenommen hätte. Er übte noch immer eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. War sie denn noch zu retten darüber überhaupt nachzudenken! Mit wildfremden Männern in ein Cafe zu gehen war nicht ihre Art. Peinlich berührt senkte sie ihren Blick und stammelte: „Nein, tut mir leid. Ich hab keine Zeit. Ein ander Mal vielleicht.“. Erneut huschte ein Lächeln über seine Lippen und er antwortete: „Ich werde Sie beim Wort nehmen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“. Aurelia bedankte sich, zog den Kopf ein und flüchtete, so schnell sie konnte. Seine Aussage klang fast wie eine Drohung. Sie hoffte inständig nicht das Opfer eines Stalkers zu werden. Schließlich hörte man solche Geschichten jeden Tag. Sie drehte sich nocheinmal zu ihm um. Er hatte ihr bereits den Rücken zugewendet und setzte sich in Bewegung. Plötzlich fiel etwas aus seiner Tasche. Aurelia ging ihm hinterher, hob seine Geldbörse auf und rief nach ihm. Ihr Rufen wurde jedoch von dem lärmenden Straßenverkehr übertönt. Aurelia vermutete zwar einen lahmen Trick seinerseits, aber schließlich hatte er ihr am vergangenen Tag ihre Börse zurückgegeben. Er hätte damit auch einfach verschwinden können. Sie musste ihm seinen Geldbeutel zurückgeben. Das war sie ihm schuldig. So folgte sie ihm und rief immer wieder nach ihm, ohne gehört zu werden. Er ging über die Straße und bog in eine Seitengasse. Aurelia überkam ein ungutes Gefühl. Sie verharrte kurz und überlegte, ob sie ihm wirklich weiter folgen sollte. Vielleicht war er ein Irrer, der sie entführen und verschleppen wollte. Allerdings machte er nicht den Eindruck als ob er geistig verwirrt wäre. Zwar konnte man das nie wissen, aber Aurelia entschied sich, ihm weiter zu folgen und bog in die Seitengasse ein. Plötzlich brach die Sonne mit voller Kraft durch die Wolkendecke und blendete Aurelia. Sie konnte fast nichts mehr sehen, so grell war das Licht. Es stach schmerzhaft in die Augen und sie legte schützend ihre Hände vor das Gesicht. Das Licht war heiß und brannte auf ihrer Haut. Das konnte unmöglich die Sonne sein. Ihr gesamter Körper schmerzte und ihr entfuhr ein Schrei. Was war das?

Aurelias Körper fühlte sich taub an und ihr Kopf dröhnte. In der Luft lag der Geruch von feuchtem Gras und irgendetwas stach sie in den Hals. Dumpf vernahm sie das Kreischen von Vögeln und ein Windstoß fegte über ihr Gesicht. Benommen versuchte sie ihre Augen zu öffnen. Ihr Blick war verschwommen und ihre Augen schmerzten. Nachdem sie wieder scharf sehen konnte, starrte sie auf grüne Grashalme. Langsam setzte sie sich auf und sah sich um. Sie lag mitten auf einer weiten Wiese und rund um sie herum befand sich nichts weiter als ein Waldrand. Über ihrem Kopf kreisten Vögel, die Sonne schien angenehm warm und der Himmel war strahlend blau. Wo war sie? Langsam stand sie auf und versuchte sich zu entsinnen was geschehen war. Aurelia erinnerte sich an den Abend im Theater, daran, dass sie mit Dave und Hannah in einer Bar war. So viel konnte sie unmöglich getrunken haben, dass sie nicht mehr wusste, was danach geschehen war. Krampfhaft versuchte sie sich daran zu erinnern, jedoch ohne Erfolg. Panik stieg in ihr auf.. Wo zur Hölle war sie und wie war sie hier her gekommen? Das Atmen viel schwer und sie begann zu zittern. Panisch griff sie nach ihrer Handtasche, die am Boden neben ihr lag, wühlte darin nach ihrem Mobiltelefon und versuchte Hannah anzurufen. Keine Netzverbindung. „Verdammt!“, brodelte es aus ihr heraus. Was sollte sie nun tun? Sie versuchte sich zu beruhigen, atmete kontrolliert und überlegte, wie sie sich nun verhalten sollte. Aurelia sprach sich selbst gut zu und beschloss erst einmal herauszufinden wo genau sie sich befand. Anschließend sollte sie eine Stadt finden und Dave oder Hannah anrufen, damit sie Aurelia abholen und nach Hause fahren konnten. Zufrieden mit ihrem logischen Plan, streckte sie sich, verstaute das Telefon wieder in ihrer Handtasche und überlegte in welche Richtung sie gehen sollte. Sie befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Hinter ihr lag nur ein dunkler Wald und durch diesen wollte sie nicht unbedingt gehen. So beschloss sie in das vor ihr liegende Tal zu wandern. Sicher war die nächste Stadt nicht weit entfernt. Während sie marschierte kreisten ihre Gedanken. War das ein Traum oder hatte sie so viel getrunken, dass sie sich wirklich an nichts mehr erinnern konnte? Und wie war es möglich, dass sie anders gekleidet war? Sicherlich waren Turnschuhe, Jeans und Pullover in diesem Fall praktischer, als ein Abendkleid, aber dennoch konnte sie sich einfach nicht erklären, was genau vorgefallen war. Sie musste einfach schnellst möglich hier weg und nach Hause. Das war ab nun ihr einziger Gedanke. Über alles andere konnte sie sich später noch den Kopf zerbrechen.

Nach etwa einer Stunde Fußmarsch kam Aurelia in dem Tal an. So weit das Auge blicken konnte erstreckten sich Weizenfelder, deren Ähren sich mit dem Wind wiegten und goldgelb in der Sonne schimmerten. Als sie näher kam erspähte sie einige Menschen, die auf den Feldern arbeiteten „Gott sei Dank!“, platzte es aus ihr heraus. Erleichtert legte sie an Schritttempo zu, denn wo Menschen waren, da gab es auch ein Dorf oder eine Stadt und ein Telefon. Aurelia folgte einem kleinen Trampelpfad, der direkt durch die Felder führte. Kleine Jungen spielten in den hochgewachsenen Weizenähren Verstecken, etwas ältere Kinder banden die geschnittenen Halme zu dicken Bündeln zusammen und legten diese auf Holzkarren. Ein älterer Mann hatte seine Sense über eine Schulter gelegt und rügte einen der Buben. Allesamt trugen sie seltsame Kleidung aus Wolle, so schätze Aurelia zumindest. Die Hosen und Hemden waren von Erde beschmutzt und machten einen eher lumpigen Eindruck. Als Aurelia an dem alten Mann vorbei ging wurde sie kritisch beäugt. Auch der kleine Junge, der seine Rüge wohl gut verkraftet hatte, blickte sie verwundert an und flüsterte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Wortlos ging Aurelia an ihnen vorüber und plötzlich tauchten wie aus dem Nichts gelbe Dächer vor ihr auf. Erleichtert atmete sie tief durch. Ein Dorf. Sie war gerettet! Eilig setzte sie ihren Weg fort und suchte vergebens nach einem Ortsschild, dass ihr Auskunft darüber geben konnte, wo sie sich befand. Je näher sie den Häusern kam, desto besser konnte sie erkennen, dass die Dächer nicht mit gelben Ziegeln gedeckt waren, sondern mit Stroh. Mit jedem Meter den sie zurück legte wurde die Situation obskurer. Die Frauen und Mädchen trugen weite Kleider aus Baumwolle, jede von ihnen hatte sich eine Schürze umgebunden, die eher schmutzig als sauber war und jede trug eine Art Haube. Einige von ihnen trugen hölzerne Eimer zu einem Brunnen und schöpften daraus Wasser. Wieder andere schleppten Futtersäcke über den Platz und verschwanden in Tiergehegen, die von Schafen, Ziegen und Kühen bewohnt wurden. Kleine Mädchen jagten Katzen von einem Haus ins nächste und die Jungen kreuzten die Klingen mit Holzschwerten und rauften sich. Diese Leute erinnerten sie irgendwie an Pilger. Plötzlich dämmerte Aurelia, dass sie wahrscheinlich in einer Pilgerdorf gelandet war. Vor einiger Zeit hatte sie darüber eine Reportage im Fernsehen verfolgt. Diese Menschen verzichteten auf jeglichen technischen Fortschritt und lebten im Grunde noch wie vor hundert Jahren. Wenn dies der Fall war, würde sie hier sicher kein Telefon vorfinden. Erneut stieg Panik in ihr auf. Aurelias Anwesenheit schien niemand zu bemerken und so fasste sie sich ein Herz und sprach eine ältere Dame an, die auf einer Holzbank vor einem Haus saß und Kleider flickte. „Entschuldigen Sie bitte. Wo bin ich hier und wo finde ich eine Telefonzelle?“, fragte Aurelia höflich. Die Frau hob ihre faltigen Augenlider, betrachtete Aurelia argwöhnisch und zog die Augenbraue nach oben. Aurelia wartete eine Weile und hoffte, dass die alte Dame sie wenigstens verstehen konnte. Um ganz sicher zu gehen wiederholte sie ihre Frage: „Wo bin ich hier?“. „Westgrove.“, antwortete ihr Gegenüber irritiert. Aurelia nickte, obwohl sie von diesem Ort noch nie etwas gehört hatte. Etwas langsamer formulierte sie ihre nächste Frage: „Und wo finde ich ein Telefon?“. Die Frau blickte sie weiterhin fragend an und Aurelias Hoffnungen sanken ins Bodenlose. In diesem Ort würde sie garantiert keine Telefonzelle finden. „Könnten Sie mir dann vielleicht sagen, wie ich in die nächstgelegene Stadt komme.“. In einer größeren Stadt hätte sie wenigstens höhere Chancen auf eine Netzanbindung. „Blacksand Hill? Immer nach Osten.“, sagte die alte Frau und zeigte mit ihrem Finger in die genannte Himmelsrichtung. Wenigstens konnte sie Aurelia darauf eine Antwort geben. Gut. Aurelia musste sich einfach nur auf dem Weg halten, der nach rechts führte. Das konnte nicht so schwer sein. „Danke.“, rief sie, während sie sich in Bewegung setzte.

Unermüdlich ging sie die lange Straße entlang. Einmal begegnete ihr eine Gruppe von drei Mädchen, die mit Wäsche gefüllte Körbe schleppten und sie im Vorübergehen entgeistert anstarrten. Ansonsten war sie alleine. Der Weg führte an einem Fluss entlang. Ab und an ging es Berg auf, dann wieder Berg ab, schließlich durch ein kleines Wäldchen, vorbei an einem See und über eine weitere Hügelkuppe. Langsam ging die Sonne unter und mit jedem Meter, den Aurelia zurücklegte, fragte sie sich, wie weit es noch war. Ihre Beine schmerzten, ebenso wie ihr Rücken. Sie war müde, hätte Hunger und Durst. Ein Glück hatte sie immer etwas Geld dabei. Sobald sie Hannah informiert hatte, würde sie sich erst einmal in irgendein Restaurant setzen, einen Happen essen und ein kühles Bier trinken. Das hatte sie wirklich bitter nötig nach diesem Alptraum. Als Aurelia eine weitere Hügelkuppe erklommen hatte, blieb sie ruckartig stehen und ihre Mundwinkel klappten nach unten. Schockiert blinzelte sie in die Ferne und konnte kaum fassen was sie sah. Vor ihr erstreckte sich eine gewaltige Burg. Oder zumindest etwas in dieser Art. Nicht nur die Straße auf der sie sich befand führte Richtung Stadttor, sondern mehrere aus allen Himmelsrichtungen. Die Stadt war von mächtigen Mauern umgeben, die mit steinernen Zinnen verstärkt waren. An einigen Stellen der Mauer ragten dicke Rundtürme in die Höhe, auf deren Spitzen bunte Flaggen im Wind wehten. In die Stadt führte nur ein Tor, soweit Aurelia das von ihrer Position aus einschätzen konnte. Das Tor war geöffnet und Menschen drängten sich über eine Zugbrücke, die über einen breiten Wassergraben und in das Innere der Stadt führte. Einige Leute waren beritten, andere zu Fuß, wieder andere schleppten Kisten oder Säcke und drängten sich an Wachen vorbei. Aurelia war den Tränen nahe und musste sich beherrschen, um nicht auf der Stelle loszuweinen. Als sie dieses Schauspiel vor der Stadt beobachtet hatte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Netzverbindung hier nicht besser sein würde als in dem Dorf, geschweigedenn eine Tefelonzelle zu finden war. Sie versuchte ruhig und kontrolliert zu atmen um nicht zu kollabieren. Verzweifelt fuhr sie sich durch ihr Haar und rang nach Luft. Wo war sie hier nur gelandet? Das musste ein Alptraum sein! Was sollte sie jetzt tun und wohin sollte sie gehen? Letztere Frage erübrigte sich von alleine, als die Sonne hinter einem Hügel verschwand und die Dämmerung in langsam in Dunkelheit überging. Eines war ihr klar: Sie musste in die Stadt gehen und versuchen irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Aurelia war defintiv im falschen Film gelandet, aber als Erstes musste sie einen kühlen Kopf bewahren, etwas essen und ein wenig schlafen. Bei klarem Verstand ließen sich viele Dinge besser aufklären und so setzte sie ihren Weg in Richtung der Stadt fort.

Kurze Zeit später kam Aurelia am Stadttor an. Sie überquerte die Zugbrücke und passierte zwei Wachen. Diese sahen aus wie Ritter aus dem Mittelalter. Sie trugen komisch verbeulte und wenig glänzende Rüstungen aus irgendeinem Metall und führten gefährlich aussehende Waffen in ihren Händen. Aurelia zog instinktiv den Kopf etwas ein und versuchte unbemerkt zu bleiben, jedoch ohne Erfolg. Allerdings erntete sie nur verwunderte Blicke, wurde aber durchgelassen. Erleichtert atmete sie auf, folgte dem Weg, der nun sogar gepflastert war, und dieser führte sie direkt in das Zentrum der Stadt. Den Mittelpunkt des Marktplatzes bildete ein steinerner Springbrunnen der mit wasserspeienden Figuren verziert war. Der Platz wurde von unzähligen Häusern eingegrenzt, zwischen denen weitere Wege verliefen. Die Gebäude erinnerten allesamt stark an alte Fachwerkhäuser. Auf den Pflasterstraßen tummelten sich viele Menschen, die an den Markständen ihre Einkäufe tätigten, Waren umherkarrten, ihre Produkte lautstark anpriesen oder Schausteller, die ihre Kunststücke darboten. Die Frauen und Männer waren zwar besser gekleidet als in dem Dorf, allerdings änderte es nichts daran, dass der Stil merkwürdig war. Die Röcke waren breit, die Taillen eng geschnürt und meistens lugte der Busen der Damen etwas zu weit heraus. Zumindest für Aurelias Geschmack. Die Kleider waren meistens schön bestickt mit Perlen oder funkelnden Steinen und der Stoff an sich sah fürchterlich schwer aus. Die Männer trugen Hosen, Hemden und Jackets, ebenfalls mit Schnickschnack versehen. Eine kleine Brise wehte Aurelia entgegen und sie vernahm köstliche Düfte von frisch gebackenem Brot, gebratenem Fleisch und Gewüzen. Das Wasser lief in ihrem Mund zusammen und sie machte sich auf die Suche nach einem Marktstand an dem sie etwas Essbaren kaufen konnte. Ihr war ziemlich egal, was sie zu essen bekam, Hauptsache es war warm. Als sie an einer Art Backstand fündig wurde, blieb sie stehen, sah sich die Auslage an und entschied sich für ein Stück Kräuterbaguette. Zumindest hielt sie es für ein solches. Der Verkäufer starrte sie ungeduldig an und wartete. Aurelia zeigte mit ihrem Finger auf das Baguette, er nahm es von seinem Tisch und als er im Begriff war, es ihr zu überreichen sagte er: „Zwei Kupfer.“. Aurelia riss erschrocken die Augen auf und fragte sich, was zum Henker ein Kupfer für eine Währung war. Sie kramte in ihrer Tasche, zog eine Dollarnote aus ihrer Geldbörse und streckte sie dem Mann entgegen. Ungläubig blickte er sie an und fragte: „Was soll ich mit diesem Stück Papier anfangen? Zwei Kupfer.“, fügte er energischer hinzu. Aurelia ließ ihre Hand sinken, drehte sich um und ging wortlos. Sie flüchtete in eine Nebenstraße und ließ sich erschöpft in einer dunklen Ecke hinter einem großen Fass auf den Boden fallen. Kauernd zog sie ihre Beine dicht an den Körper und umschlang diese mit den Armen. Schließlich ließ sie ihrer Verzweiflung und ihren bitteren Tränen freien Lauf. Sie wusste weder wo sie war, wie sie je wieder nach Hause kommen, geschweigedenn das alles überleben sollte. So allein und hilflos hatte sie sich noch nie gefühlt. Ihr Schluchzen wurde lauter und niemand war da, der sie hätte in den Arm nehmen konnte.

Eine gefühlte Ewigkeit später hatte Aurelia sich näher an das Fass gedrängt, ihren Kopf daran gelehnt und war unter Tränen kurz eingenickt. Plötzlich ergriff jemand ihre Schulter und sie zuckte zusammen. Erschrocken riss sie die Augen auf und vor ihr hatte sich eine dunkle und bedrohliche wirkende Gestalt aufgebaut. Ein Angstschrei entfuhr ihr, sie sprang auf und war gerade im Begriff davonzulaufen, als eine sanfte Stimme flüsterte: „Ruhig Mädchen. Setz dich wieder und iss etwas.“. Im Dunkel erkannte Aurelia, dass die unheimliche Gestalt ihr etwas entgegenstreckte. Die Stimme des Mannes klang ruhig, freundlich und vertrauenswürdig. Langsam griff sie danach und roch daran. Brot. Ohne eine Sekunde zu zögern nahm sie das Gebäck an sich und biss herzhaft hinein. Noch nie hatte ein einfaches Stück trockenes Brot so gut geschmeckt. Während sie kaute flüsterte sie: „Vielen Dank.“. Weitere Tränen kullerten über ihre Wangen und sie schluchzte herzzerreißend. Die Gestalt zupfte an seiner Kleidung herum und legte schließlich ein schweres Stück Stoff um ihre Schultern. Ein wohlig warmes Gefühl durchströhmte ihren Körper und ihr Zittern ließ langsam nach. „Komm.“, bat der Mann ruhig. Er nahm ihren Arm und führte sie die Straße entlang, bis sie an einem Haus angelangten. Von draußen hörte man amüsiertes Gelächter, Gesang und Musik und durch die Fenster brach helles Licht. Er öffnete die Tür und warme Luft, durchtränkt mit den verschiedensten Gerüchen von Essen, Wein und Bier, schlug Aurelia entgegen. Der Mann betrat das Haus und Aurelia folgte unaufgefordert. Ihr war sehr wohl bewusst, dass es gefährlich war, einem völlig Fremden zu folgen, allerdings war es ihre einzige Möglichkeit, zumindest in diesem Moment. Er führte sie an einen Tisch aus massivem Holz und bedeutete ihr, sich auf einen der Stühle zu setzen. Anschließend ging er zu einer Art Gastwirtin, wechselte einige Worte mit ihr und kehrte zu Aurelia zurück. Kurze Zeit später brachte eine Kellnerin zwei große Teller mit allerlei Gemüse, Fleisch und Kartoffeln an ihren Tisch. Der alte Mann lächelte sie freundlich an und rief: „Iss.“. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und begann alles in sich hineinzustopfen. Wortlos, aber sichtlich amüsiert sah er ihr zu, wie sie aß. Ab und an warf sie einen verstohlenen Blick auf ihn. Er war alt, seine Haut faltig, aber seine Augen freundlich. Seine Haare waren lang und hiengen grau und zerzaust über die Schultern, während sein Bart dem Haupthaar in nichts nachstand. Auch er trug die hier gängliche Kleidung, die allerdings gepflegt und ordentlich aussah. Nachdem sich Aurelias Magen zusehens füllte, begann sie sich zu fragen, warum er ihr half. Vielleicht hatte sie einen so armseligen Eindruck auf ihn gemacht, dass er ihr einfach nur helfen wollte. So etwas gab es, wenn auch selten. Im Grunde war ihr Mitleid eher unangenehm, aber in diesem speziellen Fall war sie außerordentlich dankbar dafür. Schließlich fragte er: „Nun Mädchen, zu einem guten Mahl gehört zwangsläufig eine gute Unterhaltung. Erzähle mir, was dich nach Hilgram verschlagen hat.“. Aurelia blickte in seine braunen Augen und überlegte kurz, ob sie ihm wirklich die Wahrheit sagen sollte. Schließlich konnte sie ihre momentane Realität selbst nicht glauben, wie sollte es dann ein anderer Mensch tun können. Dennoch beschloss sie ehrlich zu ihm zu sein, denn er hatte ihr uneigennützig geholfen. Zumindest machte es diesen Eindruck. „Ich weiß es nicht. Ich war mit meinen Freunden auf einem Fest und heute morgen bin ich auf einer Wiese bei einem seltsamen Dorf namens Westgrove aufgewacht. Ich weiß weder wo ich bin, noch wie ich hier her komme. Eigentlich wohnte ich in New York City.“, plapperte Aurelia wie ein Wasserfall ohne Luft zu holen. Ihre ganze Verzweiflung und Hilflosigkeit kam in ihrer Stimme zum Ausdruck. „Ich verstehe einfach nicht was passiert ist und wo ich ein Telefon finden kann um meine Freunde anzurufen, damit sie mich abholen können.“. Ihr Gegenüber war sichtlich irritiert und murmelte mehr an sich selbst gerichtet: „Telefon...“. Mehr hatte er anscheinend nicht zu sagen. „Sie glauben mir nicht oder? Ich möchte einfach nur nach Hause. Bitte helfen Sie mir.“, flehte Aurelia, erneut den Tränen nahe. Seine Stirn legte sich in stärkere Falten und er schien angestrengt nachzudenken. Schließlich sagte er in festem Ton: „Nun Mädchen, ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann. Aber ich werde mein Möglichstes tun.“. Aurelia viel ein Stein vom Herzen, denn es bedeutete einen großen Hoffnungsschimmer für sie, dass ihr wenigstens ein Mensch helfen würde, der sich hier auskannte. „Vielen Dank!“, rief sie freudig. Am liebsten hätte sie ihn sogar umarmt. „Wie wirst du genannt?“, fragte er interessiert. „Aurelia Warren.“, antwortete sie ohne zu zögern. Er deutete eine Verbeugung an und stellte sich mit: „Naltar.“, vor. Schließlich erhob er sich, bat sie ihm zu folgen und gemeinsam gingen sie eine knarrende Treppe nach oben in das erste Stockwerk. Naltar begleitete sie bis zu einer Tür, überreichte ihr einen Schlüssel und formulierte kurz: „Das ist dein Gemach. Schlafe dich gut aus, denn morgen haben wir einen weiten Weg vor uns.“. Aurelia hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber auf seltsame Art und Weise vertraute sie ihm. Sie nickte dankbar, nahm den Schlüssel entgegen und verschwand in ihrem Zimmer. Der Raum war dunkel, blind kramte sie in ihrer Handtasche und zückte ihr Telefon. Darin war eine Leuchte eingebaut, die es Aurelia ermöglichte wenigstens das Bett zu finden. Erschöpft ließ sie sich auf das schmale Bett fallen, legte sich auf das Kissen und zog die Decke bis unter ihr Kinn. Die Bettwäsche roch unangenehm und das Kissen war nicht besonders weich. Der Geruch von modrigem Holz lag in der Luft und selbst hier oben hörte man noch immer die lautstark feiernden Gäste im unteren Stockwerk. Aber momentan war ihr einfach alles egal, Hauptsache sie konnte schlafen. Alles würde wieder gut werden, redete sie sich so lange ein, bis sie in einen tiefen Schlaf sank.
Yve
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