„Du bist zu gut.“, sagte M. einmal. „Neben dir fühle ich mich immer wie ein Arschloch.“
Kurz darauf ging er und ließ mich stehen mit meinem Gedankenwirrwarr, noch immer meinen Teil des Taus haltend. In der langen Zeit danach wurde ich selbst zu der leblosen Strippe, die ich mit der Zeit immer weiter verkürzte und aufrollte, bis ich ihr zerfasertes und von Wind und Wetter ausgefranstes Ende in der Hand hielt. Alles, was kaputt ist, kann man reparieren. Nur weiß man meistens nicht, wie.
„Glücklichsein ist wie Fahrradfahren.“, sagte Peter.
Peter war ein kleiner, quadratischer Mann mit einem Eierkopf und abstehenden Ohren, der gern Einrad fuhr und dabei mit bunten Bällen jonglierte.
„Welcher Weg ist der Richtige?“, fragte ich ihn einmal.
„Jeder.“
Der Sommer war einsam ohne dich. Wenn ich allein bei einem Glas Wein auf meinem Balkon saß und arbeitete, dann zerrtest du manchmal schmerzhaft an meinem Herzen, obwohl ich dir vorher gesagt hatte, dass du mich zurücklassen musst. Ich schrieb dir zu viele Briefe, die ich nicht abschicken konnte, Lieder und Gedichte, die du niemals hören oder lesen wirst. Nichts als zerrüttete Wörter, die dich nicht zurückbringen können. Früher wollte ich frei sein. Ich dachte, ich würde mich wiederfinden, wenn ich das, was ich bei dir geworden bin, in dir verliere. Jetzt hänge ich hier.
Wenn man sich nie mit der Zukunft abgegeben hat, und einem plötzlich die Gegenwart abhanden kommt, dann fällt es schwer, nach vorn zu schauen.
Peter weiß vieles. Ich habe ihm alles über uns erzählt.
„Früher“, sagt er manchmal, „konnte ich nicht lieben. Dann hat die Stille mich weit werden lassen.“
Peters Augen sind sehr groß und kennen die Welt. Sonst redet er nie von sich. Er steht immer im dunkelsten Winkel der Brücke am kältesten Ende der Stadt und verkauft seine Ohren. Ich mochte sie auf Anhieb, diese Ohren. Sie verstehen, warum du nicht zurückkommen darfst: Du lässt mich immer viel zu weich werden, so weich, dass ich mich kaum noch halten kann. Vielleicht kannst du auch die Stille spüren, dort wo du bist. Dann würdest du dein Herz in einen Briefumschlag stecken und hier herüber schicken. Wenn ich dann sehe, dass ich noch keine Kratzer hinterlassen habe, dann können wir vielleicht zusammen glücklich werden.
Meine Wohnung ist nicht groß. Ein Zimmer mit Bad, Küche und Balkon, doch das genügt. Ich könnte zu viel leeren Raum nicht ertragen. Vormittags kommen die Kinder, die ich im Klavierspiel und im Gesang unterrichte. Abends kommt oft M. vorbei, zum Reden, zum Essen, zum Festhalten. Es liegt viel Leichtigkeit in unserer Freundschaft. Wir hassen uns, lachen viel, und manchmal schlafen wir miteinander. Dann reden wir uns ein, dass wir weder dich noch sie brauchen. Könnten wir uns doch nur genug sein.
In letzter Zeit frage ich mich oft, was Peter sagen, denken oder tun würde. Als ich ihm von M. erzählte, hat er die großen Augen im Schädel verdreht, sodass man nur noch das Weiße sehen konnte, wie eine tote Qualle. Dann hat er sich die Ohren zugehalten, laut: „Lalala“ gesagt und ist mit seinem Einrad davongefahren.
„Wir könnten verreisen.“, schlägt M. Vor. Ich erinnere ihn daran, dass wir weder Geld, noch Berufe, in denen man genug davon verdienen könnte, noch Lust, uns solche zu suchen, haben.
„Was hältst du von Paris? Ich habe eine Tante dort.“
„Zu kommerziell.“, sage ich, und denke: Dein Geruch klebt noch an den Häusern.
Schließlich beschließen wir, nach Venedig zu fahren, wo wir eine ehemalige Kommilitonin besuchen können. Vera. Wir mochten sie nie besonders, aber sie wohnt in einer schönen Stadt.
Wenn man auf der Flucht ist, darf man keine Zeit verlieren.
„Bin weg. Komme evtl. zurück. Werft meine Post einfach weg.“, schreibe ich auf einen Zettel und klebte ihn an meine Wohnungstür. Zu Packen habe ich fast nichts.
M. verspätet sich wieder. Das geschieht oft, und jedes mal frage ich mich, ob er überhaupt kommen, oder einfach nie wieder auftauchen würde. M. war einer der Menschen, denen ich sowas zutraue. 2 Stunden später als verabredet höre ich schließlich den stotternden Motor seines bunt angemalten Kleinbusses.
„Willst du die Katze etwa mitnehmen?“
„Das ist ein Kater. Und er heißt übrigens Edward.“
Der Kater lebt auf der Straße, und seit einigen Wochen füttere ich ihn. Da sich außer mir niemand um ihn kümmert, habe ich Angst, dass er verhungern könnte. M. zuckt relativ gleichgültig mit den Schultern.
„Wie dieser Vampir?“
Er sollte dringend zum Frisör gehen, sein Haar war zu lang und zottig, um auch nur einigermaßen gepflegt zu wirken. Ich frage mich, ob er gekifft hatte.
„Nein, du Trottel!“, weise ich ihn auf meine charmante Art zurecht. „Edward mit den Scherenhänden.“
Ich liebe diese Geschichte. Edward war ein total lieber Kerl, und doch waren da immer diese Scheren, die ihn einsam machten und jene, die er liebte, auf Abstand hielten. Zärtlich streiche ich über das graue Fell des Katers, wie ich gern deine Wange gestreichelt hätte. Es beginnt, wieder gepflegt auszusehen. Was man mit Liebe düngt, das blüht wieder auf, und trägt Früchte.
Wir fahren gen Süden, hören so laut Musik, dass unsere Gedanken übertönt werden, und spiegeln uns nicht ineinander wieder. Als es dunkel wird, läd M. mich bei McDonalds zum Essen ein, danach putzen wir uns dort auf dem Klo die Zähne und setzen unsere Reise fort. Nachts durch vertraute Städte zu fahren, dass ist, als würde man einen völlig neuen Zug auf dem Gesicht eines Menschen entdecken, den man schon ewig kennt. Die Dunkelheit verdeckt die Makel, die Nacht macht uns alle zu Geschwistern.
Wir halten erst an, als wir am nächsten Morgen das Meer erreichen. Müde und verspannt sitzen wir nebeneinander am Strand, vergraben die Füße im Sand, trinken Kaffee und fühlen uns ein klein wenig frei. Ich werde nicht mehr an dich denken, beschließe ich. Nur an M., unsere Reise und unsere Freundschaft, oder was auch immer da zwischen uns ist. Du kannst mich nicht retten, zumindest nicht mehr heute.
Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich mich das nächste mal aufsetze, ist es fast wieder dunkel und M. scheint spurlos verschwunden. Weiter hinten am Strand höre ich Gelächter, Gitarrenmusik und kann ein Feuer sehen. Eine Gruppe von Freunden, 2 befreundete französische Pärchen, ein Kleinbus, einige Flaschen Rotwein. Sie begrüßen mich freundlich, bieten mir Wein an, wir unterhalten uns kurz auf Französisch, Englisch, und Gebärdensprache.
„Wohin fahrt ihr?“, frage ich.
„Kairo.“
„Hongkong.“
„Toulouse.“
„Quagadougou. Und du?“
Ich nicke nur. Ich würde fahren, wohin der Wind mich trieb. Es wartet niemand auf mich. Wir trinken den Wein, singen, rennen gegen Mitternacht ins Wasser, und ich fühle mich sehr einsam. Irgendwo verschwimmt der Abend zu einer einzigen Masse rotschimmerndem Lagerfeuerlichts, irgendwann wache ich gegen Mittag vor unserem Bus auf. M. liegt neben mir, den Kater zusammengerollt auf seinem Bauch, er riecht nach Rauch und sieht nach Totalabsturz aus. Ich frage nicht, wo er gewesen war.
Man sagt, Liebe sei das schönste Gefühl von allen. Aber wenn man sich für die Liebe aufgeben muss, damit sie funktioniert, dann kann sie verdammt scheiße sein. Was, wenn man noch nicht gefunden hat, was man sucht. Man sucht noch und weiß nicht genau, was eigentlich, deshalb will man weg, wer weiß, es könnte in jeder fremden Stadt einfach plötzlich auf der Straße liegen. Aber man weiß, dass man vielleicht alles wegwerfen muss, was man hat, um das zu finden, was man nicht sucht, aber braucht. Nur was, wenn man sich irrt und plötzlich mit nichts da steht und für immer allein ist?
„Was suchst du eigentlich?“, fragt Peter.
„Das Glück.“, antworte ich, obwohl es nicht stimmt. Klischees klingen unecht und sind meistens falsch. Wir suchen etwas, von dem wir glauben, dass es das Glück ist, aber wir können nicht sicher sein, weil es für uns anders aussieht als für alle anderen Menschen. Wie soll ich ohne dich glücklich werden, wenn ich es nicht einmal mit dir schaffe? Ich wünschte, du hättest durch die Haut sehen können, als wir nackt waren. Zweifel, nichts als Zweifel und kein Ende am Horizont.
M. wacht erst wieder auf, als es schon zu dämmern beginnt. Ich habe die Zeit über Herta Müller gelesen und Briefe an Kafka geschrieben. Wir haben keine Lust, weiterzufahren, also essen wir Müsliriegel, rauchen und zählen die Schiffe. Es tut gut, die Zeit in Eimern zum Fenster herauszuwerfen, jetzt, wo irgendwie alles egal geworden ist.
„Lass uns eine Liste machen.“, schlägt M. vor. Ich habe eine Listen – Phobie. Sie setzen sich einem auf die Brust und versuchen, einen im Schlaf zu erwürgen. „Wir schreiben alles auf, was wir immer schon machen wollten.“
...
hier geht es dann weiter.