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Die Fischzunge

Beitragvon schreibs » So 09 Jul, 2023 01:37


Unsere Zungen sind Fische, sie zappeln im kühlen Nass.

Immer wenn er etwas trank, verwandelte seine Zunge sich in einen Fisch. Es handelte sich um ein handliches Rotauge, welches sich streckte und wendete um dem Wasser nahezusein. Da roher Fisch seine Leibspeise war, musste er darauf achten, seine Zunge während des Trinkens nicht abzubeissen. Andere Kinder müssen nicht so auf ihre Zunge achten, hatten seine Eltern ihn bereits gelernt. Doch die meisten Menschen haben auch keinen Fisch zur Zunge. Wenn seine Zunge sich verwandelte und im Wasser schwamm, konnte er sich frei und glücklich fühlen. Wenn sich das Rotauge mit der Beendigung des Trinkprozesses wieder in eine Zunge verwandelte, verspürte er einen diffusen Missmut, den er kaum bemerkte. Doch mit den Jahren stellte er sich philosophisch anmutende Fragen, bspw. wie es dem Fisch ginge, wenn er nicht existierte. Als das Rotauge wieder einige Runden in seinem Mund gedreht hatte, wünschte er sich, dass das Tier doch bei ihm bleibe. Er schluckte das Wasser hinunter und spuckte tatsächlich sogleich den Fisch aus, der wie wild zappelte. Seine Zunge hatte sich nicht wieder hergestellt, sondern lag nun in Form eines Fisches am Küchenboden. Normalerweise fürchtete er sich vor wilden Tieren, doch in diesem Falle, blieb er ganz ruhig,griff nach dem Fisch und nahm ihn in den Mund. Dann füllte er etwas Leitungswasser nach. Der Fisch begann in seinem Mund zu schwimmen, so wie er es vom Trinken gewohnt war. Die sanften Bewegungen des Tiers zeugten von seinem Wohlwollen. Freilich konnte er nicht mehr mit anderen Menschen sprechen. Doch immerhin schützte sein Mund das Leben eines Schwächeren.

Manchmal fragten ihn seine Mitmenschen, warum er das Tier nicht in ein anderes Becken entlasse.
Er konnte nicht darauf antworten, doch er wusste, dass es das natürliche Habitat des Rotauges war. Seit über 30 Jahren lebte das Tier in seinem Mund. Warum sollte er das Tier seines Lebensraum entreissen, nur um sprechen zu können. Ohnehin offenbaren sich die wichtigsten Botschaften auf nonverbalem Wege. So ging er aufrechten Ganges, einen äußeren Hochstatus kommunizierend auf seine Mitmenschen zu. Er verfügte trotz des Fisches in seinem Mund über ein authentisches Lächeln mit welchem er seinen Wohlwollen und seine friedfertigkeit mitteilte. So lebte er bis in seine Vierziger mit dem Fisch im Munde. Es war ihm wichtig dass es dem Tier gut ging, so dass er bei seinen Arztbesuchen den behandelnden Doktor bat, auch einen Blick nach dem Fisch zu werfen. Dieser erfreute sich glücklicherweise bester Gesundheit. Er fütterte ihn in regelmäßigen Abständen mit Mais und Brot. Manchmal teilten sie sich auch eine Mahlzeit. Wobei der Fisch natürlich nicht so viel schaffte wie der Mensch, der ihn beherbergte. Als er bereits sehr alt war, lebte der Fisch immer noch. Er fragte sich manchmal, wie es sein könne dass ein Tier solange überleben könne. Seine Anfragen in Textform bei einigen Universitäten, wurden nicht beantwortet. Er schilderte in seinen Schreiben präzise und prägnant, dass er seit Jahrzehnten ein Rotauge im Mund beherberge. Er vermutete dass er seiner Zeit vorraus sei. Deshalb wollte er sein Erbe an seinen Erstgeborenen weitergeben.

Als er auf dem Sterbebett lag, liess er seinen Ältesten zu sich rufen. Er spuckte den Fisch in seine Hand und sagte: "öffne deinen Mund". "Warum soll ich ihn in den Mund nehmen, ich bin doch nicht schwul", rief der Sohn mit besorgten Kopfstimme. Obwohl der Mann bereits auf dem Sterbebett lag, fehlte es ihm nicht an der Kraft seinem Sohnes einen sanften Hieb auf den Hinterkopf zu verpassen. "Deine Homophobie ist vollkommen fehl am Platze. Es geht um das Leben des Fisches" Der Fisch zappelte wie wild am Boden und er fühlte sich an den Tag in der Küche erinnert. Damals als er den Fisch vom Boden hob.

"Nein bitte nicht Vater, ich möchte doch so gerne sprechen. " flehte der Sohn. "Und dieser Fisch möchte leben!" donnerte der Vater mit letzter Kraft." Dann wurde der Vater ruhiger und sprach mit sanfter Stimme: "der Fisch ist es gewohnt im Munde zu leben mein Sohn."

Da merkte der Sohn, dass dies alles war was für seinen Vater zählte und er öffnete seinen Mund. Sogleich fing er an zu würgen und spie das Tier aus. "Du wirst dich daran gewöhnen", sagte der Vater lächelnd und entschlief. Der Sohn wollte den letzten Willen des Vaters ehren und nahm immer wieder den Fisch in seiner Mundhöhle auf.

Mit der Zeit gewöhnte er sich tatsächlich an das Tier. Und während er sich daran gewöhnte, gab es einen Umschwung in der Gesellschaft. Auch andere Menschen nahmen Tiere in den Mund um ihnen dort einen Lebensraum zu gewähren. Schon bald galt es als modern, eine Maus oder sonstige Nagetiere im Mundbereich zu haben. Einige Personen hielten ein Küken im Mund. Die meisten Menschen waren nicht dazu in der Lage, einen Fisch in ihrer Mundflora zu verwahren.

Am ersten Todestag des Vaters hatte der Sohn den Fisch seit einem Jahr im Mund. Die Bewegungen des Tiers waren mit den Monaten langsamer geworden. Da fragte er sich plötzlich in einem Moment als der Fisch regungslos in seinem Mund war, wie sein Vater denn klar und deutlich hatte sprechen können, wenn er doch gar keine Zunge gehabt hatte. Er wollte kein vorschnelles Urteil treffen und behielt das Rotauge deshalb weiter im Mund.

Doch als der obuzierende Arzt ihm mitteilte, dass er die Zunge des toten Vaters eingehend untersucht hatte und an ihrer Existenz kein Zweifel bestehen könne, da spuckte er den Fisch aus und zertrümmert mit seinen Ballen dessen Schädel. "Das finde ich jetzt sehr bedenklich" sagte der Arzt. "Meine Tochter führt seit Anfang dieses Jahres einen Fisch im Mund und ich unterstütze sie gerne dabei. Dass sie auf solch verächtliche Weise mit einem Lebewesen umgehen, das Ihnen doch naturgemäß untergeordnet ist, ist wirklich unpässlich. Ich muss gestehen,dass ich entsetzt von ihrem Mangel an Einfühlungsvermögen bin.
"Das dürfen sie auch sein", entgegnete er und verließ die Arzt-Praxis.
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