Alle epischen Texte, die in keine andere Kategorie passen

Erleuchtet

Beitragvon schreibs » Fr 16 Apr, 2021 01:46


Um dem Zorn meiner Mitmenschen zu entrinnen, begab ich mich an das andere Ende der Welt. Dort angekommen, sah ich an einem kleinen Busbahnhof einen Geshe. Es handelte sich um einen Geshe Lharampa, einen Abkömmling des höchsten buddhistischen Gelehrtengrades. Wie die Gurus und Hashish-Babas unterschied er sich hinsichtlich seiner Kleidung von den bürgerlichen Menschen. Seine Physiognomie schien mir nicht besonders fein konstituiert zu sein, doch es fand sich auch keine Grobschlächtigkeit darin. Blutgeflutet schienen mir die wenigen, kräftigen Stirnfalten des Herrn und ich fragte mich, ob er vielleicht wahnsinnig sei. Die Ausbildung zum Geshe dauert 25 Jahre und umfasst ein Studium der buddhistischen Texte, der daoistischen Logik und der ostasiatischen Argumentationstheorie.

Die Debatten währen solange, dass einige der Teilnehmer in Folge des wochenlangen Aufenthalts im Regen an Tuberkulose erkranken und sterben. Wir alle hatten offene Wunden am Kopf und im Gesicht. Während der Prüfungen mussten wir im Kreis herumspringen und Fragen wie "ist ein Gegenstand von sich heraus?" oder"liegt im nicht denken von Sein und nicht Sein das sein?" "Kann es einen Experten der Moral geben?" beantworten.

"Excuse me" rief ich viele jahre später "My mind has a big problem" dabei zeigte ich meine Handinnenflächen, in denen ich einen Kreis, der aus feinen Falten gewebt zu sein schien, zu erkennen glaubte. Gleich den Speichen eines Fahrrads erstreckte sich Falte neben Falte. Ich musste den Verstand verloren haben. "Ratsch am Kappes" murmelte ich verzweifelt. 40 Jahre unermüdlichen Studiums nur um schliesslich als psychotischer Pflegefall zu Tage zu treten. Mein Geshe Lharampa liess ein prustendes Lachen hörbar werden, welches mich beruhigte. "Mache ich alles richtig?" fragte Geshe mich. "Naturellement" entgegnete ich und konnte ein wohl temperiertes Maß an Verwunderung über die Einfachheit der Frage meines Lehrmeisters nicht verbergen. Mein Geshe brach in Tränen aus und ich wusste, dass es für mich an der Zeit war zu gehen. Geshes zeichnen sich dadurch aus, dass sie in jeder ihrer Handlungen nützlich- und niemals störend sind.

Besonders gerne entsinne ich mich des Wendepunktes in meiner Ausbildung. Ich debattierte drei Monate lang mit meinen Studienkollegen, kaum schlafend, ohne Dach in einem südindischen Klostergarten über den Zusammenhang der Begriffe Seele Liebe und Moral. Ich war gerade im Begriff wesentliche Einsichten in die Morphologie meines seelischen Geschehens zu erlangen, als ich an Tuberkulose erkrankte. "Nun kannst du zeigen, was du über Ruhe, Leere, Schmerz und Demut wirklich weißt" sagte mein Lehrmeister zu mir. Als ich unsere Debatte röchelnd und Blut speiend fortführte und währenddessen in wenigen Wochen zur Genesung gelangte, fingen die Menschen um mich herum an mich Geshe zu nennen.
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