Der Rabe und das Schreiben
Verfasst: Mi 26 Nov, 2008 10:10
Der Rabe und das Schreiben
Eigentlich war es kein Zufall gewesen. Den Nistplatz hatte ich schon mitten im Winter beobachtet. Und damit mich die Alten nicht bemerken, hatte ich mich frühmorgens im Dunkeln dafür angeschlichen. Reglos hinter dicken Waldrandeichen verharrend, das kalte Fernglas in den klammen Händen, fror mir dabei erbärmlich. Mehr als den Eintrag von Nistmaterial habe ich aber nicht mitbekommen. Vielleicht noch die eigentümlichen Laute, mit welchen sich die Alten verständigten.
Erst im April, als die Jungen flügge waren, trieb es mich wieder an die Stelle. Mehrere voll befiederte Jungvögel befanden sich im Horst. Von den Alten keine Spur. Eines der Jungen saß aber nicht so apathisch herum wie die anderen, sondern war dabei, mit neugierigem Umtrieb die Horstumgebung zu erkunden. Eine seltsame Vorahnung stellte sich bei mir ein, als ich sah wie es wiederholt die eine Seite der Astgabelung, in welche der Horst gebettet war, emporkletterte, um mit kraftvollen Sprüngen, über den anderen etwas tiefer liegenden Ast, zur massigen Nestplattform zurückzukehren. Während die anderen Jungen, soweit ich das mitbekam, höchstens von einem Nestrand zum anderen hüpften, wurde das eine mit seinen Ausflügen immer wagemutiger und ließ mich gebannt sein Tun verfolgen. Bis das Unvermeidliche geschah: Es war gar keine spektakulärere Weite - vorher hatte es größere Distanzen gemeistert - aber eine kurze Entfernung wurde zu hastig angesetzt, der Sprung geriet zu knapp und die Landung war zu sorglos auf der glatten Rinde. Die Krallen rutschten ab und die Flügel öffneten sich matt und kraftlos beim trudelnden Fall in die Urwaldtiefe.
Schnell lief ich hinüber. Dann sah ich ihn auch schon: direkt am Stamm, duckte sich sein schwarzes Federkleid tief in den Waldboden. War er aber nicht etwas weiter hinten gelandet? Möglicherweise täuschte mich die Entfernung. Als ich mich dem verängstigten Vogel näherte, sperrte er seinen fleischfarbenen Rachen weit auf, wie eine giftige Blume und fauchte mich an. Und wie er so in der Stellung verharrte, zeichneten zwei dunkle Linien tief in seinem Schlund einen Richtungspfeil nach oben zum Nest. Zwanzig bis Fünfundzwanzig Meter - ein tiefer Fall. Ich sah mich um. Der Fuchs würde sich heute Nacht von einem Fauchen nicht beeindrucken lassen. Es gab kein größeres Gebüsch in der Nähe, nichts was das Junge zum Hochklettern nutzen könnte. Nur einen alten Reisighaufen, den jemand mal aufgeschichtet hatte - was war denn das? Ungläubig starrte ich auf das Reisig: ein weiteres Junges saß aufrecht darauf, kaum fünf Schritte von mir entfernt und schaute mich an. Das musste das Junge sein - natürlich, die Richtung stimmte! Und es hatte überhaupt keine Angst. Das andere lag wohl schon länger da unten.
Vorsichtig näherte ich mich dem Reisighaufen. Um das Junge nicht unnötig zu erschrecken, versuchte ich, nicht auf die umherliegenden trockenen Zweige zu treten. Aber es machte gar keine Anstalten die auf Furcht hindeuten ließen. Selbst als ich mich vor ihm ins knackende Reisig kniete, musterte es mich unverändert aufmerksam, ja fast schon Neugier konnte ich in seinen blauen Augen ausmachen. Wie groß das Junge war! Noch nie hatte ich einen Raben aus solcher Nähe betrachten können. Ich näherte meine Hand zum Gruß und zu meiner Bestürzung nahm er diese nicht nur mit einer gleichzeitigen Körperbewegung an, sondern sprang behände mit zwei gezielten Sprüngen auf meinen Unterarm und weil ich den Arm reflexartig anhob, direkt auf meine rechte Schulter. Mit verrenktem Hals auf Distanz zu bleiben versuchend, starrte ich den langen Rabenschnabel an, der sich so plötzlich auf meiner Augenhöhe befand. Der Rabe aber musterte nur kurz meinen Scheitel, als wäre ich ein Stück Holz, drehte sich seelenruhig in eine bequeme Sitzposition und schien mich nicht weiter zu beachten. So brüsk er mich bestiegen und eingenommen hatte, so schnell veränderte sich der Ausdruck in seinen Augen; sie begannen sich, wie vor Müdigkeit, zu schließen. Und während ich mich aufrichtete, tat er es mir gleich, trippelte mit den Krallen, sein Gewicht auf der Schulter verlagernd, plusterte dabei das Gefieder und steckte zuletzt, zu meiner äußersten Verwunderung, den Schnabel bis über die geschlossenen Augen unter den rechten Flügel. Da stand ich nun mit einem schlafenden Raben, der in meine Intimsphäre eingedrungen war.
Am nahen Waldrand gab es genügend hohes Gebüsch und junge Bäume, auf denen ich ihn hätte absetzen können. Aber ich schritt hindurch und überquerte behutsam den Grenzgraben, denn ich wollte das schlafende Junge nicht wecken. Doch kaum hatte ich die Wiese dahinter betreten, die der alte einäugige Schäfer mit seiner Herde regelmässig beweidete, und auf welcher ich so häufig, aus der Deckung des Waldes, den Fuchs beim mausen beobachtet hatte, da erschienen plötzlich die Alten mit rauen Warnlauten ziemlich tief auf mich zuhaltend. Das hätte ich ihnen nie zugetraut. Das sonst so scheue Paar, näherte sich bis auf zehn, fünfzehn Meter abwechselnd im Flug, bevor sie abdrehten, mit gesträubten Hauben aufs Höchste erregt und warnend. Waren ihre unmittelbaren Kehllaute nicht zu hören, warf sie das Echo vom Walde zurück oder zumindest ihre heftigen Flügelschläge ruderten geräuschvoll durch die Abendluft - was für ein Spektakel! Das Junge aber reagierte überhaupt nicht. Erst nachdem ich es rüde stupste, zog es den Kopf aus dem Gefieder und blinzelte wie ein Kind das aus dem Tiefschlaf schreckt. Ich packte es mit der linken Hand an den Beinen und wiegte es auf und ab, damit es die Flügel breite. Dann warf ich es mit einer sanften Bewegung in die Luft - doch es bremste nur den Fall mit den Schwingen und plumpste jämmerlich ungeschickt ins Gras, von einem Crescendo rauer Rab-rab-rab Lauten des Paares begleitet. Die Alten taten mir leid. Ich entfernte mich rückwärts gehend in Richtung des Dorfes. Das schien sie zu beruhigen. Schließlich drehte ich mich um und lief bis zum nahen Schilfgürtel, wo die Beutelmeisen letztes Jahr in den ausladenden Zweigen der Salweide gebrütet hatten.
Unschlüssig blickte ich zurück und starrte auf den schwarzen Punkt inmitten der grünen Wiese. Was sollte ich tun? Es begann zu dunkeln. Die Alten hatten sich in die Baumwipfel am Waldrand zurückgezogen. Ihre Rufe waren verstummt. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Dass sie das Junge mit Schnabel und Klauen anheben und mitnehmen? Die Situation erschien mir mit einem mal lächerlich. Ich schritt wieder entschlossen auf das Junge zu, herrschte es an
- Komm hau ab, geh heim!
und fuchtelte mit den Armen. Es gab keine Reaktion. Nur die Alten kamen wieder warnend näher. Das Junge schien sich nicht wohl zu fühlen im Gras. Da packte ich es mit beiden Händen und hielt es den Alten entgegen:
- Nehmt es, wenn ihr könnt! Nehmt es doch!
Das war jetzt aber dem Jungen zu viel gewesen. Etwas, wie ein Schrecklaut, entfuhr seinem Schnabel und es versuchte sich aus meinem Griff zu befreien. Da setzte ich es wieder auf meine Schulter und richtete ihm das durcheinander geratene Gefieder. Das gefiel ihm offensichtlich. Es beruhigte sich sofort.
So wandte ich mich und ging. Die Alten verfolgten mich quer durch die Au, mit nicht nachlassendem Gehader. Ihre hassenden Rufe flogen auch noch über die Obstbäume hinweg, als ich den Hang zum Dorf emporstieg. Erst bevor ich die Gärten vor der letzten Häuserreihe erreichte, zogen sie ab und verschwanden in der aufkommenden Nacht.
Seither ist er immer in meiner Nähe, der Rabe. Er hält genügend Abstand zu meinem Alltag, und segelt hoch über mir. Sein keilförmiger Stoß ist oft nicht mehr auszumachen im Zenit. Doch ab und zu kommt er gerne auf meine rechte Schulter, knabbert an meinem Ohrläppchen und fordert mich auf ihn zu kraulen. Meistens nehme ich dazu meine Füllfeder - die mag er am Liebsten - dann sackt sein Kopf träge zwischen die Schultern und seine helle Nickhaut steigt wohlig über die blauen Augen, während er seinen Kehlbart sträubt und die gleichen leisen und genüsslichen Laute von sich gibt, welche ich damals bei den Alten, im Moment der Übergabe des Nistmaterials, erlauscht hatte.
Eigentlich war es kein Zufall gewesen. Den Nistplatz hatte ich schon mitten im Winter beobachtet. Und damit mich die Alten nicht bemerken, hatte ich mich frühmorgens im Dunkeln dafür angeschlichen. Reglos hinter dicken Waldrandeichen verharrend, das kalte Fernglas in den klammen Händen, fror mir dabei erbärmlich. Mehr als den Eintrag von Nistmaterial habe ich aber nicht mitbekommen. Vielleicht noch die eigentümlichen Laute, mit welchen sich die Alten verständigten.
Erst im April, als die Jungen flügge waren, trieb es mich wieder an die Stelle. Mehrere voll befiederte Jungvögel befanden sich im Horst. Von den Alten keine Spur. Eines der Jungen saß aber nicht so apathisch herum wie die anderen, sondern war dabei, mit neugierigem Umtrieb die Horstumgebung zu erkunden. Eine seltsame Vorahnung stellte sich bei mir ein, als ich sah wie es wiederholt die eine Seite der Astgabelung, in welche der Horst gebettet war, emporkletterte, um mit kraftvollen Sprüngen, über den anderen etwas tiefer liegenden Ast, zur massigen Nestplattform zurückzukehren. Während die anderen Jungen, soweit ich das mitbekam, höchstens von einem Nestrand zum anderen hüpften, wurde das eine mit seinen Ausflügen immer wagemutiger und ließ mich gebannt sein Tun verfolgen. Bis das Unvermeidliche geschah: Es war gar keine spektakulärere Weite - vorher hatte es größere Distanzen gemeistert - aber eine kurze Entfernung wurde zu hastig angesetzt, der Sprung geriet zu knapp und die Landung war zu sorglos auf der glatten Rinde. Die Krallen rutschten ab und die Flügel öffneten sich matt und kraftlos beim trudelnden Fall in die Urwaldtiefe.
Schnell lief ich hinüber. Dann sah ich ihn auch schon: direkt am Stamm, duckte sich sein schwarzes Federkleid tief in den Waldboden. War er aber nicht etwas weiter hinten gelandet? Möglicherweise täuschte mich die Entfernung. Als ich mich dem verängstigten Vogel näherte, sperrte er seinen fleischfarbenen Rachen weit auf, wie eine giftige Blume und fauchte mich an. Und wie er so in der Stellung verharrte, zeichneten zwei dunkle Linien tief in seinem Schlund einen Richtungspfeil nach oben zum Nest. Zwanzig bis Fünfundzwanzig Meter - ein tiefer Fall. Ich sah mich um. Der Fuchs würde sich heute Nacht von einem Fauchen nicht beeindrucken lassen. Es gab kein größeres Gebüsch in der Nähe, nichts was das Junge zum Hochklettern nutzen könnte. Nur einen alten Reisighaufen, den jemand mal aufgeschichtet hatte - was war denn das? Ungläubig starrte ich auf das Reisig: ein weiteres Junges saß aufrecht darauf, kaum fünf Schritte von mir entfernt und schaute mich an. Das musste das Junge sein - natürlich, die Richtung stimmte! Und es hatte überhaupt keine Angst. Das andere lag wohl schon länger da unten.
Vorsichtig näherte ich mich dem Reisighaufen. Um das Junge nicht unnötig zu erschrecken, versuchte ich, nicht auf die umherliegenden trockenen Zweige zu treten. Aber es machte gar keine Anstalten die auf Furcht hindeuten ließen. Selbst als ich mich vor ihm ins knackende Reisig kniete, musterte es mich unverändert aufmerksam, ja fast schon Neugier konnte ich in seinen blauen Augen ausmachen. Wie groß das Junge war! Noch nie hatte ich einen Raben aus solcher Nähe betrachten können. Ich näherte meine Hand zum Gruß und zu meiner Bestürzung nahm er diese nicht nur mit einer gleichzeitigen Körperbewegung an, sondern sprang behände mit zwei gezielten Sprüngen auf meinen Unterarm und weil ich den Arm reflexartig anhob, direkt auf meine rechte Schulter. Mit verrenktem Hals auf Distanz zu bleiben versuchend, starrte ich den langen Rabenschnabel an, der sich so plötzlich auf meiner Augenhöhe befand. Der Rabe aber musterte nur kurz meinen Scheitel, als wäre ich ein Stück Holz, drehte sich seelenruhig in eine bequeme Sitzposition und schien mich nicht weiter zu beachten. So brüsk er mich bestiegen und eingenommen hatte, so schnell veränderte sich der Ausdruck in seinen Augen; sie begannen sich, wie vor Müdigkeit, zu schließen. Und während ich mich aufrichtete, tat er es mir gleich, trippelte mit den Krallen, sein Gewicht auf der Schulter verlagernd, plusterte dabei das Gefieder und steckte zuletzt, zu meiner äußersten Verwunderung, den Schnabel bis über die geschlossenen Augen unter den rechten Flügel. Da stand ich nun mit einem schlafenden Raben, der in meine Intimsphäre eingedrungen war.
Am nahen Waldrand gab es genügend hohes Gebüsch und junge Bäume, auf denen ich ihn hätte absetzen können. Aber ich schritt hindurch und überquerte behutsam den Grenzgraben, denn ich wollte das schlafende Junge nicht wecken. Doch kaum hatte ich die Wiese dahinter betreten, die der alte einäugige Schäfer mit seiner Herde regelmässig beweidete, und auf welcher ich so häufig, aus der Deckung des Waldes, den Fuchs beim mausen beobachtet hatte, da erschienen plötzlich die Alten mit rauen Warnlauten ziemlich tief auf mich zuhaltend. Das hätte ich ihnen nie zugetraut. Das sonst so scheue Paar, näherte sich bis auf zehn, fünfzehn Meter abwechselnd im Flug, bevor sie abdrehten, mit gesträubten Hauben aufs Höchste erregt und warnend. Waren ihre unmittelbaren Kehllaute nicht zu hören, warf sie das Echo vom Walde zurück oder zumindest ihre heftigen Flügelschläge ruderten geräuschvoll durch die Abendluft - was für ein Spektakel! Das Junge aber reagierte überhaupt nicht. Erst nachdem ich es rüde stupste, zog es den Kopf aus dem Gefieder und blinzelte wie ein Kind das aus dem Tiefschlaf schreckt. Ich packte es mit der linken Hand an den Beinen und wiegte es auf und ab, damit es die Flügel breite. Dann warf ich es mit einer sanften Bewegung in die Luft - doch es bremste nur den Fall mit den Schwingen und plumpste jämmerlich ungeschickt ins Gras, von einem Crescendo rauer Rab-rab-rab Lauten des Paares begleitet. Die Alten taten mir leid. Ich entfernte mich rückwärts gehend in Richtung des Dorfes. Das schien sie zu beruhigen. Schließlich drehte ich mich um und lief bis zum nahen Schilfgürtel, wo die Beutelmeisen letztes Jahr in den ausladenden Zweigen der Salweide gebrütet hatten.
Unschlüssig blickte ich zurück und starrte auf den schwarzen Punkt inmitten der grünen Wiese. Was sollte ich tun? Es begann zu dunkeln. Die Alten hatten sich in die Baumwipfel am Waldrand zurückgezogen. Ihre Rufe waren verstummt. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Dass sie das Junge mit Schnabel und Klauen anheben und mitnehmen? Die Situation erschien mir mit einem mal lächerlich. Ich schritt wieder entschlossen auf das Junge zu, herrschte es an
- Komm hau ab, geh heim!
und fuchtelte mit den Armen. Es gab keine Reaktion. Nur die Alten kamen wieder warnend näher. Das Junge schien sich nicht wohl zu fühlen im Gras. Da packte ich es mit beiden Händen und hielt es den Alten entgegen:
- Nehmt es, wenn ihr könnt! Nehmt es doch!
Das war jetzt aber dem Jungen zu viel gewesen. Etwas, wie ein Schrecklaut, entfuhr seinem Schnabel und es versuchte sich aus meinem Griff zu befreien. Da setzte ich es wieder auf meine Schulter und richtete ihm das durcheinander geratene Gefieder. Das gefiel ihm offensichtlich. Es beruhigte sich sofort.
So wandte ich mich und ging. Die Alten verfolgten mich quer durch die Au, mit nicht nachlassendem Gehader. Ihre hassenden Rufe flogen auch noch über die Obstbäume hinweg, als ich den Hang zum Dorf emporstieg. Erst bevor ich die Gärten vor der letzten Häuserreihe erreichte, zogen sie ab und verschwanden in der aufkommenden Nacht.
Seither ist er immer in meiner Nähe, der Rabe. Er hält genügend Abstand zu meinem Alltag, und segelt hoch über mir. Sein keilförmiger Stoß ist oft nicht mehr auszumachen im Zenit. Doch ab und zu kommt er gerne auf meine rechte Schulter, knabbert an meinem Ohrläppchen und fordert mich auf ihn zu kraulen. Meistens nehme ich dazu meine Füllfeder - die mag er am Liebsten - dann sackt sein Kopf träge zwischen die Schultern und seine helle Nickhaut steigt wohlig über die blauen Augen, während er seinen Kehlbart sträubt und die gleichen leisen und genüsslichen Laute von sich gibt, welche ich damals bei den Alten, im Moment der Übergabe des Nistmaterials, erlauscht hatte.